Philosofie

4. Arbeitstagung 2010 am Sonntag, den 27. Juni 2010 in Zürich

Menschenbild – Theorie und Praxis

Von Gerda Fellay

Mich beschäftigt seit Jahren, wie schwer es ist, das Menschenbild Friedrich Lieblings in die Praxis umzusetzen.

Immer wieder höre ich vor meinem inneren Ohr die Stimme Friedrich Lieblings, wie er ausführte, dass es möglich ist, dieses Menschenbild nicht nur verstandesmässig sondern auch gefühlsmässig aufzunehmen.  Aber ich muss es eingestehen, dass mir oft die Zuversicht abhandenkommt, es auch zu schaffen.

In meiner Gruppe in Zürich, die leider im vergangenen Jahr nicht so regelmässig stattfinden konnte, haben wir alle festgestellt, dass diese Arbeit am Menschenbild nur langsam vorankommt. Dennoch waren viele der Teilnehmer sicher, dass es vorangeht…

Ich glaube, wir müssen täglich üben, so wie wir es in der Zürcher Schule konnten in den 90 Gruppengesprächen pro Woche.  Am angenehmsten lebt es sich aber, wenn man sich nicht dauernd seinen Schwächen aussetzt, sondern sich das Leben so einrichtet, dass es einigermassen geht.

Mir war es ein Anliegen, im vergangenen Jahr zu erforschen, was mir so schwerfällt, eine sichere Grundlage zu errichten. Ich habe festgestellt, dass dies nicht einfach ist.

Natürlich kann man sagen, ja das ist die Kindheit, die Beziehung zur Mutter, zum Vater, zu den Geschwistern. Dass in unserer Kultur, in der Religion, in der Politik das schwärzeste Menschenbild vorherrscht, ist leicht zu sehen. Krieg und Ausbeutung und die Terroristenbekämpfer haben auf der ganzen Welt ein leichtes Spiel, die Menschen zu manipulieren. Wenn man z.B. die so genannte Wirtschaftskrise verfolgt hat, wird einem schwindlig, speiübel. Das griechische Volk soll den Schuldendienst leisten an die Banken, die bereits wieder Milliardengewinne erzielen, und das Volk schreit nicht wirklich auf, streikt nicht. Die Politiker von rechts nach links schwafeln immer den gleichen Unsinn. Und es geht weiter so, immer weiter.

Ja, was geht in meinem Gefühl vor, wenn mir das Menschenbild abhandenkommt? Vielleicht können meine Überlegungen andern Teilnehmern helfen …

Jedes Mal, immer stelle ich fest, dass es blitzschnell geht, wenn der Ärger hochkommt. Etwas geht nicht so, wie ich es mir vorgestellt habe, sogar bei den Tieren, und der Affekt. Eine Kleinigkeit zu viel . Meistens bin ich müde, habe zu viel zu tun, und bin dann anfälliger für einen solchen Anfall. Aber es sind bestimmte Situationen, die bei mir den Affekt auslösen.

Vorausschicken möchte ich, dass an mir in meiner Kindheit hohe Anforderungen gestellt wurden, die wenn sie nicht erfüllt wurden, Ärger beim Vater und Enttäuschung bei der Mutter auslöste. Dazu kam ein unerbittlicher Konkurrenzkampf mit der um 1 ½ Jahre älteren Schwester.

Ich versuche, einige Situationen zu schildern, die bei mir diesen Affekt auslösen können:

In den Beziehungen:  Eine schreckliche Wut kann mich überfallen, wenn  der andere „schwer von Begriff“ ist, nachdem ich etwas mehrere Male erklärt habe.

Im Büro: Ich habe einer Mitarbeiterin mehrmals genaue Angaben gegeben. Sie vergisst sie, mehrmals. Ich sage es wieder. Sie vergisst es nochmals oder führt die Anweisungen nur halb durch.

Bei den Tieren:  Ich versuche es mit viel Geduld, z.B. wenn ich ein Tier pflegen muss. Nach wiederholten Versuchen, wenn das Tier sich nicht einstellen kann, kann bei mir plötzlich eine Anwandlung von Gewalt hochkommen.

Dabei stelle ich fest, dass ich mich meistens kontrollieren kann, aber manchmal ist der Affekt bereits abgelaufen, bevor mir bewusst klar ist, was passiert ist.

Diese Affekte müssen in der ersten Kindheit entstanden sein, anders kann ich mir den automatischen Ablauf ausserhalb jeder Kontrolle nicht erklären.  Meiner Ansicht nach müssen sie vor dem 5. Lebensjahr entstanden sein, ansonsten wären sie sicher dem Verstand zugänglich. Diese Affekte sind erst nach Ablauf dem Verstand zugänglich. Dann aber ist mir die Unsinnigkeit des Gefühls und der Reaktion ohne weiteres und sofort einsichtig. Diese Affekte hinterlassen ein ungutes Gefühl: tiefes Bedauern, einen andern Menschen verletzt zu haben, Versagensgefühle, Ohnmachtsgefühle, das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben.

Ich stelle fest, dass ich die meisten Affekte (Ärger, Ungeduld,   Wut,  Erregung) gut kontrolliere. Ich merke die Entstehung von unguten Gefühlen sofort. Ich analysiere sie fast automatisch: Warum ärgere ich mich? Was ist vorgefallen? Was geht in mir vor? Wo ist der Bezug zur Kindheit? Diese Affekte sind dem Verstand zugänglich und können verstandesmässig entschärft werden. Sie sind harmlos und es ist damit gut umzugehen.

Im Alltag, wenn alles gut geht, aber auch unter Stress, leide ich selten unter Affekten. Ich bemerke sie schon lange bevor sie gefährlich werden. Es ist kein Problem sich zu sagen: Na, was soll’s. Über so etwas regt man sich nicht auf. Das passt doch nicht zu deinem Menschenbild. Na ja, die Kindheit lässt grüssen!

Aber wie an die Abgründe der Affekte aus der frühen Kindheit herankommen, um sie zumindest verstandesgemäss abfangen zu können, das ist die Frage, die mich in diesem Jahr beschäftigt?

Das Menschenbild einer „normalen“  Kindheit

Gehorsam muss sein. Kadavergehorsam. Disziplin. Aufmucken ist Ungehorsam, Bosheit. Autorität muss sein. Die bösen Triebe müssen beim Kind mit aller Konsequenz ausgemerzt  werden, vor dem zweiten Lebensjahr, wenn nötig mit Gewalt und Zwang.  Fehler machen ist Bosheit. Wenn man will, dann kann man. Die Menschen sind böse, hinterlistig und lauern nur darauf, dass die andern eine Schwäche zeigen. Hinter jedem Baum lauert ein Dieb oder ein Mörder. Der Stärkere hat Recht. Krieg muss sein. Es hat schon immer Arme und Reiche gegeben. Es hat schon immer Dumme und Intelligente gegeben. Gefängnisse müssen sein. Die Armee schützt das Volk vor dem bösen Feind. Das Volk muss regiert werden.  Talente sind angeboren. Über allem steht die höhere Macht, Gott.

Wie können wir weiter kommen? Gefühl und Verstand

Im Gespräch vom 11. Mai 1981[1], in dem ein Paar über seine Partnerschaft spricht, fragt Friedrich Liebling zuerst: „Entschuldigung. Was ist die Ursache dieser Unzufriedenheit, die das Ehepaar geschildert hat?“

Er bittet dann die Teilnehmer der Gruppe, diese Ursachen zu erklären. Viele Teilnehmer schildern dann ihre Sicht der Ursachen der Schwierigkeiten.

Friedrich Liebling hört sich alles geduldig an, fragt nach, ob denn die Betreffenden wüssten, warum sie die „Unzulänglichkeiten“ noch mit sich trugen, fragt schliesslich, ob es genüge, wenn man verstandesmässig etwas erfasst habe, bezweifelt dies und meint, ob da nicht mehr sei.

Dann führt er aus: „Nein, wir sind noch nicht so weit. Das ist eine brennende Frage. Da müssten gleich viele [Teilnehmer]das Gefühl haben, dass muss ich doch richtigstellen.“ Er fährt fort: „Also, die richtige Antwort wäre, dass das verstandesmässige Verstehen nicht genügt. Sonst wären viele Psychologen [wir könnten vieles]viel weiter in jeder Beziehung. [Wenn es so weit wäre]Wenn wir so reif wären. Mit dem Verstand allein ist es nicht gemacht. Es gibt Hunderttausende Bücher. Da haben sie alles drin. Das kann einer lesen und genau wissen, kann das genau weitergeben, kann darüber schreiben. Aber in seinem Gefühlsleben muss da eine Änderung eintreten. Wenn das nicht im Gefühl bewusst verankert ist, dann nützt es uns nichts. Wir versagen immer wieder. Trotz des vielen Wissens.“

Er führt dann weiter aus, dass es das Zeichen für die Veränderung sei, wenn der Mensch wisse. Er verursache dann die Probleme nicht mehr. Er sei dann erwachsen und habe genau das Menschenbild. Auf einmal erführe er, dass das was er früher erlebt habe, nicht stimme. Das was früher gegolten habe, gelte heute nicht mehr.

Er sagt: „Wer das im Gefühl aufnimmt, der sieht den Menschen anders.“

Weiter: „Also das Wissen genügt nicht, sondern das Erfühlen!“

Friedrich Liebling führt weiter aus, dass der Mensch, der erfühle, spüre, dass der andere, der Schwierigkeiten habe,  sich nicht im Leben zurechtfinde, weil er „krank“ sei. Der Mensch könne dann dem andern nicht böse sein. Er könne dem andern nicht böse sein, weil er wolle oder nicht wolle, sondern weil er ein anderes Bild hätte und dann dem andern einfach nicht mehr böse sein könne.

Ein Teilnehmer sagt, dass er verstanden habe, dass es sich um zwei Ebenen handle: Der Verstand und das Gefühl. Er fragt weiter „[] ob die Verankerung des Gefühls mit Hilfe des Verstandes zu machen sei?“

Friedrich Liebling antwortet, dass wir ins Stottern kämen, wenn wir diese Zusammenhänge zu erklären versuchten.  Er sagt zum fragenden Teilnehmer: „Es fällt Ihnen schwer, den Gedanken aufzunehmen [].“

Er erklärt dann weiter, dass wir Menschen in der Erziehung so irritiert worden seien, dass „wir so schwer den natürlichen Gedanken aufnehmen können.“

Beim besten Willen könnten wir diesen natürlichen Gedanken nicht aufnehmen. Es gehe nur mit dem Gefühl, aber unser Gefühl sei so irritiert, dass wir das neue Bild, das neue Menschenbild, einfach nicht aufnehmen könnten.

Was heisst eigentlich Menschenbild?

„Der Mensch ist gut“ heisst es in der Einladung zu dieser 4. Arbeitstagung 2010. Friedrich Liebling meint in dem, von mir zitierten Gespräch, dass wir Menschen gar nicht verstünden, was wir sagen wollten, wenn wir das Wort „Menschenbild“ aussprächen. Wir wüssten nicht, was wir damit eigentlich sagten.

Friedrich Liebling: „Wir müssen erst lange lernen, was damit gemeint ist. Wir können nicht denken. Wir haben es nicht gelernt. Wir haben Fragmente. [] So ist es eben, wir gehen den Weg. Ich habe schon oft darauf aufmerksam gemacht, dass wir [darüber] hinweg gehen. Wenn einer kommt, der eine Frage stellt, die wir nicht verstehen, nicht erfühlen, dann gehen wir darüber hinweg, ohne uns Gedanken zu machen. Als ob die Frage nicht gestellt wäre.“ Und er schliesst mit den Worten: „Also, wir müssen mit uns Geduld haben, viel Geduld.“

Ich habe diesen Absatz so verstanden, dass wir wohl vom Menschenbild sprechen, wir sagen z.B. „Der Mensch ist gut“, aber im Grunde wüssten wir gar nicht, was das heisse, eben, weil wir es nicht erfühlen könnten.

Bei der Arbeit an diesem Gesprächsprotokoll ist mir bewusst geworden, dass Friedrich Liebling recht hat, wenn er sagt, dass wir einfach über viele Fragen hinweggingen, einfach weil wir mit unserem irritierten Gefühlsleben gar nicht verstünden, um was es eigentlich geht.  Ich beginne mir bewusst zu werden, dass ich die Voten von Friedrich Liebling in den vielen Gesprächsprotokollen, die uns zur Verfügung stehen,  neu studieren müsse, gründlich und minutiös, wenn ich weiterkommen wolle.

Unser Gemütsleben macht es uns fast unmöglich, die Worte Friedrich Lieblings aufzunehmen, mit denen er uns während so vielen Jahren immer wieder und wieder das psychologische Menschenbild erklärt hat. Ich habe das Gefühl, erst mit der Arbeit an diesem Vortrag zu verstehen, um was es geht und warum ich das Gefühl habe, nicht voranzukommen.

Ich habe bis heute (einfach) noch nicht verstanden, was das Menschenbild Friedrich Lieblings eigentlich bedeuten, weil ich es mit meinem irritierten Gefühl gar nicht aufnehmen konnte.

Es freut mich aber heute, dass ich dank dieser Arbeitstagung, an der Arbeit für diesen Vortrag, endlich etwas verstanden habe, was mich schon seit Jahren beschäftigt: Ich kann das neue Menschenbild mit meinem Gemütsleben nicht aufnehmen.

Was ist zu tun?

Friedrich Liebling erklärt es in dem von mir zitierten Gespräch: „Weiter lesen, weiter lernen, weiter denken, darüber sprechen, lesen. Es dauert, bis wir so weit sind. Das geht nicht im Handumdrehen. Wir sind gut erzogen worden, gut erzogen worden, 20 Jahre lang geworden.“ []

Wir müssen uns zuerst einmal darüber klar werden, was wir alles mitbekommen haben, die  Weltanschauung, die Religion, die herrschenden Meinungen, die Schule. Wir müssen das hinter uns bringen, indem wir uns, so Friedrich Liebling, mit der Neuzeit, mit dem naturwissenschaftlichen  Gedanken konfrontieren.

Ich schliesse mit den Worten Friedrich Lieblings: „Der Mensch, der eine naturwissenschaftliche Auffassung hat, der glaubt nicht an Wunder“

 


[1] « Wie können wir weiter kommen? Gefühl und Verstand » – Gespräch vom 11. Mai 1981